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Die Jahreszeiten der EwigkeitOverlay E-Book Reader

Die Jahreszeiten der Ewigkeit

Journal | Karl-Markus Gauß

E-Book (EPUB)
2022 Paul Zsolnay Verlag
Auflage: 1. Auflage
320 Seiten
ISBN: 978-3-552-07297-8

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Kurztext / Annotation
Karl-Markus Gauß ist ein präziser 'Chronist des Alltags' (NZZ) - In 'Die Jahreszeiten der Ewigkeit' liegen Weltbühne und Ortsbesichtigung nur einen Absatz entfernt.
Die Jahre von seinem 60. zu seinem 65. Geburtstag bilden den Rahmen des neuen Journals von Karl-Markus Gauß. Doch verführt er uns, ihm weit zurück in die Geschichte zu folgen und mit ihm den Blick auf die Verwalter der Zukunft zu werfen.
Von der Weltbühne zur Ortsbesichtigung ist es für Gauß meist nur ein Absatz: Helmut Schmidts Begräbnis schließt er kurz mit Henry Kissingers Rolle in Vietnam, die Kriegsversehrten, denen er einst auf dem Schulweg begegnete, mit der Flüchtlingskrise von 2015, den Tod eines Freundes mit den digitalen Ingenieuren der Unsterblichkeit.
Der vielgerühmte Gauß-Sound: sanft und präzise, abschweifend und von aphoristischer Schärfe. Und immer elegant.

Karl-Markus Gauß, geboren 1954 in Salzburg, wo er auch heute lebt. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und oftmals ausgezeichnet, darunter mit dem Prix Charles Veillon (1997), dem Johann-Heinrich-Merck-Preis (2010) und dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung (2022). Bei Zsolnay erschienen zuletzt Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer (2019), Die unaufhörliche Wanderung (2020) und Die Jahreszeiten der Ewigkeit (2022).

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

1

Die Mehrheit der Minderheiten

Ich verließ meine Wohnung, ohne überlegt zu haben, ob ich mich vor dem Haustor nach rechts in Richtung Altstadt oder nach links in das vorstädtische Viertel meiner Kindheit begeben sollte. Seit ich das Alter erreicht hatte, in dem ich mich nur mehr selten zu einem bestimmten Termin an einem vereinbarten Ort einfinden musste, überließ ich die Entscheidung immer häufiger den Füßen, die am besten wussten, wohin ich wollte. Es war der Tag im Mai, an dem ich sechzig wurde, als sie mich binnen einer halben Stunde zu dem Schulweg brachten, auf den ich 54 Jahre vorher zum ersten Mal eingebogen war. Er hatte an einem Garten vorbeigeführt, in dem ein wütender Hund tagaus, tagein den Zaun entlangraste, vorbei am Haus des Kriegsversehrten mit dem Holzbein, der in seinem Schmerz, ich weiß nicht, ob über den verlorenen Krieg oder das fehlende Bein, manchmal einen tierischen Schrei hören ließ, vorbei am Brennnesselmeer, das dunkelgrün über die aufgelassene Barackensiedlung flutete und durch das zu waten eine von den Freunden erzwungene Mutprobe war, und vorbei an der Kohlenhandlung, in deren Hof die Kinder der armen Leute auf der schwarzen Erde Fußball spielten, bis sie am Abend, wie wir damals sagten, schwarz wie die Neger geworden waren. Heute war kein Köter zu sehen, die Knochen des Invaliden moderten seit einem halben Jahrhundert in einem Grab, das vermutlich von niemandem mehr besucht wurde oder gar aufgelassen worden war, das Areal der Kohlenhandlung war mit Einfamilienhäusern überbaut worden, die wilden Kinder waren auseinandergestoben und mussten bald das Pensionsalter erreicht haben. Dieser Weg voller Gefahren und Verlockungen war unsere Odyssee gewesen, die Ausfahrt ins Abenteuer, von der wir nur über kühne Umwege heimfinden wollten.

Die Aiglhof-Siedlung, die den Namen des alten Bauerngutes trägt, auf dessen Gelände sie am Beginn des Zweiten Weltkriegs ursprünglich für Aussiedler aus Südtirol, die so genannten Optanten, errichtet wurde, lag betäubt in ihrer vormittäglichen Verlassenheit. In meiner Erinnerung waren immer viele Menschen auf den allesamt nach k. u. k. Generälen benannten Straßen und in ihren kleinen Gärten zu sehen gewesen, es war ein dauerndes Kommen und Gehen und Stehenbleiben und Disputieren vor den zweigeschoßigen Häusern, diese Geselligkeit aller Tage, die die Lebensform des Aiglhofes ausgemacht hatte. Nur wenige hinter dem Rollator trippelnde Alte kamen mir jetzt entgegen, die mich keines Blickes würdigten. Endlich sah ich doch ein junges Paar: eine bleiche, in ihrer Übermüdung wie ausgekargt wirkende Mutter, die von ihrem alleinerziehenden Fünfjährigen behutsam durch die Siedlung geführt wurde.

Zwei unserer jüngeren Freundinnen haben jetzt, ehe es zu spät für sie geworden wäre, doch noch Kinder bekommen. Ich freue mich für sie, nicht weil ich glaubte, dass es die Berufung der Frau wäre, Mutter zu werden; vielmehr weil ich erfahren habe, wie gut einem Kinder tun können. Mich haben die meinen von der schweren Krankheit des Zynismus, die mich an Leib und Seele zu zersetzen drohte, geheilt und vor dem selbst verschuldeten Untergang gerettet. Wer Kinder hat, kann es sich nicht gemütlich in seinem Weltverdruss einrichten und als Kollaborateur des Missglückenden darauf setzen, dass die Dinge ihn schon in der schlechten Meinung, die er von ihnen hat, bestätigen werden. Jeder weiß, dass man Kindern als Gutenachtgeschichte nicht erzählen darf, dass die Welt ungerecht sei, von gewissenlosen Schurken beherrscht werde, das Gute eine Niederlage nach der anderen erleide und wir alle dereinst zu Staub zerfallen werden.

Weil wir dazu neigen, eines Tages selbst zu glauben, was wir erzählen, werden wir endlich überzeugt sein, dass die schöneren Geschichten, die wir uns für sie haben einfallen lassen, die wahren sind. So werden die Kinder zu den Eltern ihrer Eltern, indem sie diese